Heutzutage sind Daten überall in unglaublicher Fülle für (fast) jeden zugänglich. Lokale Ereignisse, regionale Wirren und weltweite Konflikte verschwimmen in einem unüberschaubaren Potpurri. Über Nachrichtensendungen, soziale Medien und YouTube, die Presse, fernmündlich und face-to-face werden Daten ausgetauscht und konsumiert. Die Zunahme des Datenschwalls wird durch das Internet und die virtuellen Datenstraßen befördert. Nun liegen jedoch nicht gleichzeitig Informationen vor. Sondern Informationen erhalten wir erst durch die Interpretation von Daten. Die Vielfalt an Daten und die damit verbundenen Interpretationserfordernisse haben Folgen für die Gesellschaft und das gesellschaftliche Zusammenleben.
Beginnen wir blauäugig. Grundsätzlich gehen Menschen zunächst davon aus, über die mediale Berichterstattung die Fakten und Wahrheit zu erfahren. Das ist jedoch in beschränktem Umfang der Fall. Und dabei geht es nicht um absichtliche Falschmeldungen oder Beschränkungen (Zensur) wie in weniger demokratischen Ländern. Sondern jeder Medientheoretiker, Sozialwissenschaftler usw. wird darauf hinweisen, dass Nachrichten „Vorführungen“ bzw. Inszenierungen sind. So hätte es Erving Goffman wohl ausgedrückt. Überspitzt: Wir sehen ein Alltagstheater – und davon auch nur die Vorderbühne. Die Inszenierungen sind in vielerlei Hinsicht konstruiert. Zunächst wird eine Auswahl an Daten getroffen; diese werden in eine Textform gebracht und/oder sie werden mit Bildern und Filmen unterlegt. Da bedeutet, dass wir stets nur einen vorgefertigten Ausschnitt von dem präsentiert bekommen, was tatsächlich passiert. Die Produzenten von Berichten sind die „Wächter“ der Wahrheit.
Nun wäre es Anlass zur Freude, dass das Nachrichtenmonopol – nicht zuletzt durch das World Wide Web – ausgehebelt wird. Vorfreudig wird in diesem Zusammenhang von digitaler Emanzipation, Kommunismus 2.0 und der neuen Unabhängigkeit der Medien gesprochen. Gleichzeitig kommt es jedoch zu einer Schwemme an Daten im Akkord. Produzent ist dabei Jedermann.
Angesichts der Komplexität von Daten, die zur Verfügung stehen, sind wir Rezipienten fortwährend dazu gezwungen, Entscheidungen dahingehend zu treffen, was die Wahrheit ist. Früher schien es gelegentlich einfacher: Für eine Bauernfamilie war die Wahrheit das lokale Geschehen und die Weisungen des Adels. In der NS-Zeit war Propaganda die Wahrheit. Für viele ist Religion die einzige Wahrheit. Die Entscheidung für eine einfache Wahrheit ist nicht überraschend, will sich der Mensch doch lediglich in der (post-)modernen Gesellschaft zurechtfinden. Allerdings sind einfache Wahrheiten stets Simplifizierungen komplexer Zusammenhänge, so Niklas Luhmann. Es gibt niemals den einen Erfinder: Edison hat die Glühbirne nicht alleine erfunden. Eine einzelne Person ist sicherlich kaum verantwortlich für die Politik eines ganzen Landes (Stichwort: Merkel). Und ein Land regiert nicht absolutistisch in Europa. Es sind nicht die Asylsuchenden, die kriminell sind, und es sind auch nicht die Rechten, die Flüchtlingsheime anzünden.
Zwischenstand: Ich wähle also eine Wahrheit. Die Wahrheit ist das, was ich für Wahrheit halte. Die Gründe für diese Wahl sind breit gefächert: Vertrauen, Geisteskrankheit, Visionen, Schmiergeld, um nur einige zu nennen. Wirklichkeit wird von uns stets (sozial) konstruiert. Darauf haben sowohl Peter Berger und Thomas Luckmann als auch, stärker populär, Paul Watzlawick hingewiesen. Konstruktion von Gesellschaft ist ein gemeinschaftlicher, kontinuierlicher Prozess, in dessen Verlauf auch Wahrheit konstruiert wird. Vermutlich habe ich die größtmögliche Chance auf Wahrheit, wenn ich etwas mit eigenen Augen sehe – die Daten also selbst erhebe und interpretiere. Ansonsten bin ich auf „Stellvertreter“ angewiesen, die mir berichten.
Aber auch in solchen Situationen, in denen ich etwas erlebe, bleibt stest eine Restunsicherheit. Denn Ereignisse sind stets eingelagert in umfassendere Handlungszusammenhänge, die einen historischen Verlauf haben und situativ oft nicht zu verstehen sind. Wir leben zudem in einer Welt der unbeabsichtigten Nebenfolgen, in einer Risikogesellschaft, meint Ulrich Beck. Kaum ein Ereignis oder eine Entscheidung bewirkt neben den primären und anvisierten Zielen nicht auch sekundäre Effekte. Diese müssen nicht, können jedoch negativ sein. Wer kann also behaupten, über vollständiges Wissen zu verfügen, um Daten hinreichend interpretieren zu können? Anders formuliert: jede/r interpretiert Geschehnisse und Ereignisse vor einem begrenzten Wissenshorizont. Wie soll dann Wahrheit produziert werden?
Das Tagesgeschehen hat eine Geschichte. Sind Ereignisse erst einmal angestoßen, kann es schwierig sein, deren Verlauf zu beenden oder zu verändern. Ereignisse sedimentieren als Strukturen der Gesellschaft. Vielfach bewegen sich Phänomene auf verfestigten Bahnen (sie haben „Momentum“) und können nicht von einem Moment auf den anderen geändert werden, etwa Verkehrsregeln, Gesetze, Umgangsarten. Das ist der Sinn von Organisationen und Institutionen – das soziale Leben wird auf Dauer gestellt und muss nicht jeden Tag neu verhandeln werden. Wir wissen, wie etwas getan wird. Es gibt unhinterfragte Regeln und Werte nach denen wir leben.
Menschen wollen Verhaltenssicherheit, Ordnung, Lebensqualität. Dazu gehört auch der Glaube an Wahrheit. Leider machen es sich viele zu leicht und wählen eine einfache Wahrheit, eine Wahrheit, die Ihnen gefällt. Sie konsumieren auch nur diese Wahrheit und selbstvergewissern sich in den Kreisen derjenigen, die ebenso denken. In einem Zirkel aus gegenseitiger Bestätigung manifestiert sich die Meinung in einem einfachen Dualismus: Wir haben Recht, die anderen lügen (Stichwort: „Lügenpresse“). Wie schon gesagt: einfache Wahrheiten, und dazu gehört Schwarz-Weiß-Denken, sind niemals tragfähig.
Komplexe Daten und eindimensionales Denken schließen sich aus.
Das World-Wide-Web befördert die Empörungsgesellschaft, so Byung-Chul Han. Angesichts der überkomplexen und stark fluktuierenden Datenmassen scheint es drei Trends zu geben.
- Kurzzeitiger Konsum statt ausreichender Recherche. Wer ist Verfasser von Beiträgen? Welche Begriffe werden genutzt? Wo wird der Beitrag platziert? Die Liste der Fragen, die eigentlich gestellt werden müssen, kann leicht verlängert werden.
- Aufregung statt Diskussion. Schneller Konsum führt zu (vor)schnellen Urteilen und Pauschaläußerungen. Grundlegende Diskussionen sind nicht möglich – und auch nicht gewollt.
- Vergessen statt Handeln. Nach der Aufregung ist vor der Aufregung. Bequem sitzend oder liegend wird der nächste Datenhappen konsumiert. Ein Handlungsimpuls ist nicht vorhanden.
Was bleibt als Fazit: Menschen in der heutigen Gesellschaft sollten sich den Anforderungen komplexer Daten und multipler Wahrheiten stellen. Es gilt, die Verschiedenartigkeit der Daten gewinnbringend einzusetzen, diverse Interpretationen zuzulassen, Wissen zu sammeln und zum Handeln zu nutzen. Das bedeutet: Dualismen aufbrechen, anders denken, andere Perspektiven einnehmen und sich selbst hinterfragen! Wir alle konstruieren unsere Gesellschaft und unser Leben.